Aufkleber und Illusionen
Es gibt diese Aufkleber, auf denen steht, „Nett hier. Aber waren Sie schon mal in Baden-Württemberg?“. Sie sind leider mittlerweile an vielen internationalen Sehenswürdigkeiten zu finden, derart penetrant, dass das Land Baden-Württemberg sich genötigt gesehen hat, dazu aufzurufen, sie nicht mehr zu kleben, sondern nur noch an touristischen Orten zu fotografieren. Man bezeichnet das als „erfolgreiche Marketingkampagne“. Das ist das eine – aus der Perspektive eines Bundeslandes, für das Tourismus eine relevante wirtschaftliche Bedeutung hat, mag das ein Erfolg sein.
Das andere ist die Ebene des Individuums. Wie bitte kommt man, bevor man in den Urlaub fährt, auf die Idee, sich diese Aufkleber zu besorgen, sie einzupacken, sie bei Ausflügen im Urlaub dann aktiv einzustecken, um sie dann an gut sichtbare Orte an unterschiedliche Sehenswürdigkeiten zu kleben, damit andere Leute, die diese Orte anschauen wollen, sehen, wie schön es Deutsche zu Hause in der deutschen Provinz finden? Ja, es mag schön sein in Baden-Württemberg, aber warum muss man das in dieser Weise mitteilen? Das ist nicht witzig oder ironisch, es wertet den Ort, an dem man ist ab, damit vielleicht auch den eigenen Urlaub.
Vielleicht geht das Phänomen tiefer, vielleicht geht es gar nicht darum, dass man anderen mitteilen will, wie schön es in der deutschen Provinz ist. Vielleicht geht es darum, dass man sich selbst schon im Urlaub immer wieder selbst sagen muss, dass es zu Hause doch so schön ist, dass es gar nicht tragisch ist, wenn man in zwei Wochen wieder zu Kehrwoche und Maultaschen zurückkehren muss. Vielleicht geht es darum, sich das eigene Leben schönzureden, indem man die Rückkehr dahin gleich in den Urlaub mitnimmt, indem man keinen Zweifel aufkommen lässt, dass das eigene Leben das ist, wie man leben will, wo man leben will. But isn´t that sad? Nicht, weil das nicht vielleicht sogar zutreffend sein kann, sondern weil man sich die Möglichkeit nimmt, es in Frage zu stellen.
Natürlich ist ein Urlaub nicht dazu da, um das eigene Leben grundsätzlich in Frage zu stellen. Viele Menschen tun dies dennoch, zumindest im Kleinen, zumindest ein bisschen, wohldosiert, und sei es nur, um zu träumen. Und ist nicht auch das Schöne, dass man sich vielleicht entscheidet, dass das eigene Leben das Leben ist, das man Leben will? Ist nicht auch das eine Möglichkeit? Liegt nicht gerade in diesen Gedanken, in dieser Reflexion auch Freiheit? Und machen Menschen nicht Urlaub, weil sie zumindest kurzzeitig frei sein wollen von den Zwängen zu Hause und vielleicht den Zwängen im Kopf? Ein Klischee über Baden-Württemberger besagt, dass sie sehr sparsam sind – um nicht zu sagen, geizig. Aber muss man auch im Denken so sein?
Es grenzt abgesehen davon an Engstirnigkeit und Unverschämtheit, diese Aufkleber in der halben Welt zu verteilen. Die formale Anrede „Sie“ lässt vermuten, welche Generation sich das ausgedacht hat und welche Generation Zielgruppe ist. Um ein Klischee zu bedienen: Es ist die Generation, die gern anderen erzählt, wie schön sauber, technologisch fortschrittlich und innovativ Deutschland ist. Das war mal.
Anders verhält es sich im Übrigen mit Stickern von Sportvereinen oder Graffiti-Crews, weil es hier eine Art Fankultur gibt, etwas, das aktiv gepflegt wird, mit zugrundeliegenden Formen der Interaktion, die nicht nur auf der Schönheit der deutschen Landschaft beruht. Sticker dieser Art sind eine Form der Kommunikation, eine Form des Austauschs, die nicht nur darauf referiert, wie schön es zu Hause ist. Sie kleben auch meistens nicht an Sehenswürdigkeiten, sondern an Laternenpfählen oder ähnlichen eher alltäglichen Orten, neben anderen Stickern ihrer Art. Dabei geht es nicht nur um Mitteilung, nicht um Herabsetzung des anderen, sondern um eine zugrundeliegende gemeinsame Kultur. Man mag sie teilen oder nicht, man mag das schön finden oder nicht, aber es ist zumindest nicht so platt, wie die Abwertung, dass es überall anders zwar nett, aber nirgends so schön wie in Baden-Württemberg ist. Wirklich? Dann bleibt doch zu Hause.
Postskriptum Ein Wahl-Baden-Württemberger hat mich darauf aufmerksam gemacht (danke!), dass es eher jüngere Menschen sind, die diese Sticker nutzen. Ich bin unsicher, was das mit mir macht. Ein bisschen verstehe ich die Ironie, die vielleicht ausgedrückt werden soll, wenn man Social-Media-Videos damit macht. Ein bisschen finde ich es aber auch … traurig. Man nimmt sich doch selbst immer schon mit in den Urlaub, muss das eigene Bundesland denn auch noch dabei sein?